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Herbert Gruhl-Jahr 2021

Herbert Gruhl in den 1960er Jahren

Wer wie Herbert Gruhl zu dem vor 100 Jahren geborenen Jahrgang 1921 gehörte und in Deutschland das Licht der Welt erblickte, dies als Bauernsohn, der wuchs noch in eine Welt der Pferdewirtschaft hinein. Der technische Fortschritt, den in dieser Lebenswelt der Traktor symbolisiert, kam erst später zur massenhaften Anwendung. Zunächst wurde in den 1930er Jahren die Kriegsmaschinerie ausgebaut. Die technische Entwicklung kulmi­nierte 1945 in der Atombombe. Diese überschattete den „Kalten Krieg“. Eine einseitige Ab­rüstung des Westens konnte in dieser Zeit als Friedensgefahr betrachtet werden, da diese Waffengattung anzuwenden eine beidseitige Totalvernichtung bedeuten würde und daran niemand ein Interesse haben konnte. Wer wie Herbert Gruhl in den 1950er Jahren in der CDU war, war sich in der Regel bewusst, dass der freiheitliche Westen wehrhaft sein muss. Der pazifistischen Friedens­bewegung stand Gruhl damit nicht nah, die Neutronenbombe lehnte er als Bundestags­abgeordneter, der er 1969 bis 1980 war, gleichwohl ab. Das führte Helmut Kohl in seinen Memoiren als Beleg dafür an, dass der Abge­ordnete Gruhl nicht einfach gewesen sei, aber ernst zu nehmen war ihm dieser „intelligente Parlamentarier, der in keine Schublade passte“.

In den 1970er Jahren, als die Umweltvorsorge an Bedeutung gewann, war das Gruhls Aufgabenfeld in Partei und Fraktion. Mit seinem Bestseller „Ein Planet wird geplündert – Die Schreckensbilanz unserer Politik“ (1975) machte sich Gruhl über Parteigrenzen hinweg einen Namen. Nur mit der CDU und ihrem starken Wirtschaftsflügel vertrug sich das schlecht. Er verlor unter Kohl all seine Funktionen in Partei und Fraktion. Gruhl wurde Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (1975/76), der Grünen Aktion Zukunft (1978-1980), mit Petra Kelly Spitzenkandidat der Sonstigen Politischen Vereinigung/Die Grünen zur Europawahl 1979, und 1980 eröffnete er als kommissarischer Vor­sitzen­der den Gründungsparteitag der Grünen. 1982 wurde Gruhl Vorsitzender der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP). Da hatte einer nicht nur gründlich nachgedacht und 1982 mit „Das irdische Gleichgewicht“ noch ein weiteres Buch vorgelegt, sondern den Mangel an Institutionen für ökologische Politik gesehen, und er hatte sich dafür stark ge­macht, diesen Mangel zu beheben. Das ist allein schon verdienstvoll.

Aber in der Politik wird einem selten etwas gedankt. Im Gegenteil, ein absichtsvolles Missverstehen gehört allzu oft dazu, das folgt nach einem Wort von Hermann Lübbe dem bekannten Schema intellektueller Rhetorik. Da wird Obskurantentum beschworen, um sich selbst als besonders aufgeklärt zu profilieren. Die Liste der Missverständnisse wäre lang. Wer vom Planeten spricht und – in einem Bestseller – eine „planetarische Wende“ fordert, hin zur schonenden Behandlung der Erde statt ihrer Ausplünderung, der bräuchte eine enorme Zentralgewalt. Das sah Gruhl und verwarf diese Idee. Das wird gerne übersehen. Das ging nicht nur Gruhl so. Schon Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973) musste sich von Wilhelm Röpke erklären lassen, mit seinem Buch „Dienst auf dem Planeten“ (1965) würde er auf einen Weltstaat schielen, der nur totalitär sein könne. Auch hier hatte jemand, wie Rudolf Hermeier 1988 zum Besseren gab, die globale Wirtschaft und damit die global gewordenen Probleme vor Augen, auch die Notwendigkeit ihnen Rechnung tragen zu müssen, nicht mit einer „One-World“-Utopie, sondern jeder von seinem Ort aus, ohne Weltstaat. Was Gruhl angeht, war ihm schon ein Superstaat EU zu viel des Guten. Wer genauer liest, der ist im Vorteil.

Herbert Gruhl hatte im Weltkrieg seinen unfreiwilligen Kriegsdienst geleistet. Nach dem Krieg leistete Gruhl einen freiwilligen Friedensdienst, wie das mit Rosenstock-Huessy genannt werden könnte. Es war sogar ein besonders schwer zu bearbeitendes Feld, auf dem sich Gruhl mit der erwähnten Gründung und Etablierung von Umweltparteien und -verbänden dienstbar machte. Die Grünen waren kaum gegründet, wurden sie für viele eine Zumutung, auch für Gruhl, er verließ sie und machte ihnen den Vorwurf, es mit der Ökologie und der Wahrheit nicht so genau zu nehmen, sondern an einem „alternativen Luftschloss“ zu basteln. Formulieren Die Grünen nicht genug Wahrheiten? Reinhard Loske meinte im FAZ-Interview vom 28. September 2006 unter der Überschrift „‘Wir Grünen müssen wieder Zumutungen formulieren‘“, eine saubere Umwelt und Ressourcenschonung sei mit dem Ziel eines immer weiter zu forcierenden Wirtschaftswachstums unvereinbar. Weniger Verkehr, weniger Lärm, das wäre mehr. Das war auch Gruhls Vorstellung und Motto in den 1980er Jahren. Was Loske selbst für einen Dialog zu viel der Zumutung wurde, war die Bedeutung des Bevölke­rungswachstums auf diesem Planeten, der nicht einfach die „eine Welt“ ist, sondern eine Welt, in der sich Wanderungsströme derer in Gang setzen, die es sich leisten können, über sichere Drittstaaten hinweg weite Wege zurückzulegen und damit auf Interessen einzelner Staaten prallen. Die Grenzöffnungspolitik Merkels, die von den Parteien im Bundestag und in den Landtagen hingenommen oder unterstützt wurde, wäre Gruhls Sache nicht gewesen, sie blieb ihm erspart. Rolf Peter Sieferles Buch „Das Migrationsproblem“ (2015) enthält dagegen einige der Thesen und unbequemen Wahrheiten über migrationsbedingte Auswirkungen für den Sozialstaat und die Umwelt, wie sie Gruhl schon 1985/1986 in einem Positionspapier formulierte. Wer meint, da wandern neue Konsumenten für mehr Wirtschaftswachstum zu, mag das als Energielobbyist so sehen, ökologisch sind damit keine Vorteile verbunden.

Wenn Hermann Lübbe 1986 schrieb, es könnte durchaus sein, dass sich der gute „Wille zur Naturbewahrung“ als „ohnmächtiger Wille sich erweisen könnte und zu spät kommt“, so befürchtete Gruhl in seinem letzten Buch „Himmelfahrt ins Nichts“ (1992) genau das. Während die Rio-Umwelt-Konferenz 1992 tagte, hatte Gruhl dargelegt, Schwellenländer wie China würden alle Be­müh­ungen der sog. Ersten Welt sparsamer zu wirtschaften mehr als nur aufzehren. Das wollte damals kaum jemand hören, heute ist das eine weithin akzeptierte Einsicht, wird sie oft auch verdrängt. Über einen noch unbekannten Virus dachte Gruhl in seinem Spätwerk nach, der zur globalen Pandemie werden könnte. Als 2012 das Bundesamt für Katastrophenschutz in seiner Risikoanalyse zu einem bekannt gewordenen Virus Modi-SARS der Politik riet, Vorsorge zu treffen (Drucksache 17/12051 des Deutschen Bundestags), fehlte bei den Verantwortlichen das nötige Denken in diesen Kategorien, um 2020 von der Corona-Pandemie unvorbereitet getroffen zu werden. Wir leben nach Gruhls Ausführungen in einer hochkomplexen globalisierten Welt, die abhängig von der Elektrizität und einem weit vernetzten Finanzsystem ist. Ob das immer störungsfrei funktioniert, kann man sich nicht sicher sein, dass das ins Nichts führt, mag man als steile These bezeichnen, aber unbegründet war sie nicht. 

Hinterlassen hat Herbert Gruhl Institutionen die weiterleben. Auch hier macht sich mit der Zeit die Generationenfolge bemerkbar. Junge Leute der „Fridays for Future“-Bewegung treten 2021 bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg mit einer eigenen Partei an, sie gehen zum Leidwesen der Grünen ihre eigenen Wege. Die Sorge um die Zukunft ist dieser Generation gegeben, der ökologische Diskurs der 1970er/1980er Jahre muss ihr fremd sein. Die Wiederlekrüre von „Ein Plant wird geplündert“ wird heute von Pädagogen für den Schulunterricht empfohlen. Heute auf jene Zeit zurückzublicken verspricht auch entdeckungsreich zu werden. Mitte der 1970er Jahre war noch offen, ob das Weltklima wärmer oder kälter wird, aber ökologische Probleme gab es auch so genug. Diese haben sich nicht wie die Wasserqualität im Rhein alle erledigt. Das Artensterben geht weiter, der Flächenverbrauch ist nicht in den Griff zu bekommen und nicht nachwachsende Ressourcen schwinden. Aus den 1980er Jahren findet sich die von Gruhl ins Deutsche übertragene, noch immer tief beeindruckende Rede von Häuptling Seattle in der unveränderten Übersetzung der Aufzeichnungen von Dr. Henry A. Smith, blieb die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit auch bis heute unklar. Unbequeme Wahr­heiten hält Gruhl der jungen Generation auch heute noch bereit, denn „naturkonservativ“ zu sein bedeutete ihm, auf eigene Ansprüche zu verzichten – auf materielle Ansprüche versteht sich, geistige Ansprüche waren ihm qualitativer Art und sollten keine Grenzen des Wachstums kennen. Wenn die Schule für Klimaschutzdemos geschwänzt wird, verkennt das den Wert der Bildung und bleibt ein widersprüchliches Unterfangen. Erwachsenenbildung, das kam Gruhl entgegen, sie betrieb er mit seinen vielen Vorträgen, Büchern und Texten selber.

Herbert Gruhl blieb seinen bäuerlichen Wurzeln verbunden, wenn er sich nicht nach der  Sprachherrschaft der „Political Correctness“ richtete, sondern von ihr unbeeindruckt Missstände artikulierte. Geht man Gruhls weiterer geistiger Formierung in seinem Studium nach, stößt man auf seine Dissertation über Hugo von Hofmannsthal. Diese zeugt von einer intensiven Beschäftigung mit Max Scheler, vor allem aber war ihm der Philosoph Hans Leisegang ein wichtiger Denker. Dessen Denkformenanalyse kannte das organologische Denken, was Gruhls land­wirtschaftlicher Prägung entgegen kam. Spätere geistige Verbindungslinien her­auszuarbeiten bleibt im Herbert Gruhl-Jahr 2021 und damit über ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod (1993) noch immer ein Desiderat. Der Ordoliberalismus und die „Ritter-Schule“ wären hier zu nennen.

Die gute Nachricht folgt bekanntlich meist zuletzt: Die Herbert-Gruhl-Gesellschaft e.V. wird in ihrer Schriftenreihe „Naturkonservativ“ anlässlich des Herbert Gruhl-Jahres 2021 noch etwas aus seinem Nachlass veröffentlichen. Die Internetpräsenz der Schriftenreihe finden Sie unter: ( www.naturkonservativ.com).            

Volker Kempf, Vors. der HGG, am 13./16. Januar 2021

Literatur:

Herbert Gruhl: Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik. Frankfurt/M., 1975/1992
.Herbert Gruhl: Das irdische Gleichgewicht. Ökologie unseres Daseins. Düsseldorf, 1982.
Herbert Gruhl: Überleben ist alles. Autobiographie. München, 1987.
Herbert Gruhl: Häuptling Seattle hat gesprochen. Der authentische Text seiner Rede mit einer Klarstellung: Nachdichtung und Wahrheit. Berlin, 1989; (auch in ders. (Hrsg.): Glücklich werden die sein… Zeugnisse ökologischer Weltsicht aus vier Jahrtausenden. Düsseldorf, 1984).
Herbert Gruhl: Himmelfahrt ins Nichts. Der geplünderte Planet vor seinem Ende. München, 1992.
Herbert Gruhl – Unter den Karawanen der Blinden. Schlüsseltexte, Interviews und Reden. Hg. von Volker Kempf. Frankfurt/M. u.a., 2005.
Rudolf Hermeier: Die Ökonomie Gottes und die Wirtschaft des Menschen. In: Eugen Rostenstock-Huessy: Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft. Hg. von Rudolf Hermeier. Frankfurt/M., 1988.
Volker Kempf: Herbert Gruhl – Pionier der Umweltsoziologie. Ein Autor im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Realität. Graz, 2008.
Helmut Kohl: Erinnerungen 1930-1982. München, 2004.
Reinhard Loske: „Wir Grünen müssen wieder Zumutungen formulieren“. Interview in: FAZ, 28.09.2006, S. 14.
Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung. Graz, 1986/2007.
Eugen Rostenstock-Huessy: Dienst auf dem Planeten. Kurzweil und Langeweile im Dritten Jahrtausend. Stuttgart, 1965.